Erzählungen
Fehlervogel
Es war einmal ein kleines Mädchen, das war nicht sehr klug, aber kein Mensch merkte es, denn es hatte einen Fehlervogel. Der Fehlervogel war dunkelblau, wie dunkelblaue Tinte, und er glänzte und schillerte ganz herrlich. Wenn nun das kleine Mädchen seine Schulaufgaben machte, so schrieb und rechnete es frisch drauflos. Aber es machte grässlich viele Fehler. Das tat jedoch nichts, denn wenn es den Schlusspunkt gesetzt hatte, so rief es einfach: "Fehlervogel, friss!" Und der Fehlervogel kam geflogen und fraß alle Fehler und alle Tintenkleckse weg.
Eines Tages sagte eine kleine Schulkameradin: "Ach, ich möchte auch so klug sein wie du, nie hast du einen Fehler, und ich hab' immer so viele." - "Ja", sagte das kleine Mädchen, "ich habe ja auch einen Fehlervogel. Wenn ich zu meinem Fehlervogel sage: ,Fehlervogel, friss!', so frisst er mir alle Fehler weg." - "Oh", sagte die Schulkameradin, "da komme ich heute nachmittag zu dir und bringe alle meine Hefte mit." - "Ja, tu das", sagte das kleine Mädchen.
Aber am Nachmittag kamen mit der Schulfreundin viele andere Mädchen und Buben, stolperten ins Zimmer herein und brachten alle ihre Hefte mit. Und das kleine Mädchen breitete die vielen Hefte vor dem Fehlervogel aus und sagte: "Fehlervogel, friss!" Und der Fehlervogel fraß und fraß und fraß, und auf einmal tat es einen dumpfen Knall, und da war der Fehlervogel geplatzt. Da er aber innen voller Tinte und Fehler war, so flogen all die Tintenflecken und die Fehler wieder in die Hefte hinein, und da standen nun die Kinder und hatten so viele Fehler und Kleckse in den Heften wie zuvor und noch viel mehr dazu.
Der Fehlervogel aber lag auf dem Rücken und streckte die Beine von sich. Er war mausetot. - Das kleine Mädchen stand davor und weinte bitterlich. Die anderen Kinder aber gingen ganz leise zur Tür hinaus. Ach - sie wussten genau, dass der einzige Fehlervogel, den es in der Welt gegeben hatte, nicht so jämmerlich hätte sterben müssen, wenn sie in der Schule ein ganz klein wenig fleißiger gewesen wären und nicht so viele Fehler in ihre Hefte gemacht hätten.